Medizinische Anwendung und neue Therapiefelder

Seit 2017 dürfen Ärzte ihren schwerkranken Patienten Cannabismedikamente (CAM) zu therapeutischen Zwecken auf Rezept verschreiben. Zusammen mit dem behandelnden Arzt ist ein Antrag bei der Krankenkasse erforderlich. Seither profitieren schätzungsweise 80.000 Menschen mit chronischen starken Schmerzen von dieser Regelung (Stand 2021). Waren sie zuvor auf opioidhaltige Arzneien angewiesen, können sie die schnell süchtig machenden Mittel nun reduzieren oder sogar ganz weglassen.

Eine aktuelle Studie1 aus den USA zeigt, dass der Konsum an Opioiden seit der Einführung von medizinischem Cannabis bei der Behandlung krebsbedingter Schmerzen um 5-20 Prozent zurückging. In Deutschland zeichnet sich ein ähnliches Bild ab, auch wenn die bürokratischen Hürden hierzulande höher sind. Gab es im Jahr 2018 nur 185.370 Verordnungen mit Cannabis bei den gesetzlichen Krankenkassen, waren es im Jahr 2020 schon mehr als 320.000 (Schätzung aufgrund einer Hochrechnung). Goldstandard in der Behandlung sind CAM jedoch noch nicht. Weitere Forschungsarbeiten sind nötig, um das zu ändern.

Bei Krebs und in der Palliativmedizin

Ärzte haben jedoch mittlerweile ihre anfängliche Skepsis überwunden und verschreiben durch alle Fachgruppen hinweg Cannabis als Medizin. Allen voran Dronabinol und Cannabis-Extrakte, gefolgt von Cannabis-Blüten und Fertigarzneimitteln.2

Der häufigste Grund dafür sind krebsbedingte Schmerzen. Besonders schwerkranke Menschen, die im Endstadium einer Tumorerkrankung palliativ versorgt werden, können von einer zusätzlichen  Verordnung von CAM profitieren. Denn sie leiden neben den Schmerzen häufig unter Übelkeit und Erbrechen, Appetitverlust, Angst, Schlafstörungen und Depressionen. Es gibt erste Hinweise, dass CAM auch diese Beschwerden lindern helfen und so die Lebensqualität verbessern können. Zudem belasten Cannabis-Präparate Leber und Nieren deutlich weniger als andere Medikamente – auch das ein Vorteil. Wie das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in seinem Abschlussbericht Anfang 2022 feststellte, besserten sich bei 70 Prozent der Patienten, die eine Dronabinol-Schmerztherapie machten, die Beschwerden moderat bis deutlich.

Zudem kann Medizinisches Cannabis während einer Chemotherapie Begleitsymptome reduzieren. Sein appetitanregender Effekt wird derzeit auch bei HIV-infizierten Patienten untersucht. Allerdings sind die Studiengruppen noch zu klein und die Beobachtungszeiträume noch zu kurz für aussagekräftige Ergebnisse.

Bei Multiple Sklerose und neurologischen Erkrankungen

Eine Übersichtsarbeit zu CAM bei Spastiken und Multiple Sklerose (MS)3 kommt zu dem Ergebnis, dass etwa die Hälfte der Patienten nach der Therapie mit medizinischem Cannabis eine positive Veränderung verspürte. Ein Drittel der Patienten, überwiegend mit MS, berichtete zudem über eine Linderung ihrer Symptome, zu denen auch Schmerzen gehören. Ob Cannabinoide auch Krampfanfälle bei Amyotropher Lateralsklerose (ALS) reduzieren können, ist durch Studien noch nicht ausreichend belegt. Auch gesicherte Ergebnisse zur Wirksamkeit bei Epilepsien, insbesondere bei Dravet- und Lennox-Gastaut-Syndromen, und zum Tourette-Syndrom stehen noch aus.

Neue Therapiefelder in Sicht?

Aufgrund seiner schmerz- und entzündungshemmenden Eigenschaften bieten sich CAM möglicherweise auch für die Therapie rheumatischer Erkrankungen, Fibromyalgie und Rückenschmerzen an. Versuche dazu wurden bereits unternommen. Allein ist die Datenlage hierzu noch zu dürftig für eine klare Empfehlung.

Neue Therapieansätze mit CAM gibt es auch bei der Behandlung Erkrankungen der Psyche wie Depressionen, Angststörungen und Psychosen. Auch hier genügt die Studienlage aktuell noch nicht. Etwas weiter ist man in der Erforschung des Effekts auf eine Schizophrenie. Speziell mit Cannabidiol (CBD) sind die Ergebnisse vielversprechend. Erste Daten zeigen eine gute Wirksamkeit bei geringeren Nebenwirkungen als vergleichbare Neuroleptika. Gleichwohl gilt ein dauerhafter Cannabis-Konsum nach wie vor als ein Risikofaktor für diese Erkrankung. Es bleibt also spannend!

Fazit: Medizinisches Cannabis kommt am häufigsten bei chronischen Schmerzen, insbesondere bei Tumor- und Nervenschmerzen zum Einsatz. Auch Spastiken bei Multipler Sklerose sowie Übelkeit, Erbrechen und Appetitlosigkeit während einer Chemotherapie können damit effektiv gelindert werden. Die Wirkung von cannabinoidhaltigen Arzneimitteln bei Rückenleiden, rheumatoider Arthritis, Fibromyalgie, AIDS und psychischen Erkrankungen ist bislang noch nicht hinreichend erwiesen.

Ärzte können Cannabinoide in Einzelfällen und als Ergänzung zu weiteren Maßnahmen, wie physio- und psychotherapeutischen Verfahren, verordnen. Der Antrag auf Kostenübernahme bei den Krankenkassen muss gut begründet werden.

Schmerzen früher adäquat behandeln

Laut Deutscher Schmerzgesellschaft leben rund 12 Millionen Menschen in Deutschland mit chronischen Schmerzen. Bedeutet: Sie haben länger als drei Monate Schmerzen. Etwa die Hälfte von ihnen bekommt mehr als zwei Jahre keine wirksame Schmerzbehandlung. Das heißt, dass der Verbrauch an Schmerzmitteln entsprechend hoch ist. Das wiederum kann zu Magen-Darm-Problemen und Nierenschäden führen. Auch Schlaf- und Konzentrationsstörungen oder Depressionen sind mögliche Folgen chronischer, nicht adäquat behandelter Schmerzen. Für die Betroffenen ein doppelt großer Leidensdruck. Rückenschmerzen, Kopf-, Nerven- und Tumorschmerzen gehören zu den häufigsten Ursachen.

Ziel einer guten Schmerztherapie ist es, die Ursachen der Schmerzen so früh wie möglich zu finden und zu beheben. Bis dahin gilt es, das Schmerzsignal des Körpers abzustellen. Andernfalls bildet sich im Gehirn ein Schmerzgedächtnis aus. Das heißt, Betroffene empfinden Schmerzen, obwohl deren Ursache längst nicht mehr existiert. Auch Kopfschmerzen durch einen Dauergebrauch von Akutmedikamenten drohen: Wer an mehr als 15 Tagen pro Monat ein einfaches Schmerzmedikament (z.B. ASS, Ibuprofen, Paracetamol) einnimmt oder an mehr als 10 Tagen ein Opiat, ein Triptan oder ein Kombinationsmedikament (z.B. ASS, Paracetamol und Koffein) riskiert, nach Monaten oder Jahren einen Kopfschmerz zu entwickeln.

Sind herkömmliche Schmerztherapien und -Medikamente nicht erfolgreich, kann medizinisches Cannabis eine Alternative sein. Laut Cannabis-Report der Techniker Krankenkasse aus dem Jahr 2018 entfielen 61 Prozent der Anträge auf Kostenübernahme auf die Indikation Schmerz. Weitere 16 Prozent auf die Indikationsgebiete Tumorleiden (7 %), finaler Tumorschmerz (2 %) und auf die spezialisierte ambulante Palliativversorgung (7 %). Auch hier waren Schmerzen mit Sicherheit der Hauptgrund für die Verordnung.

Freiverkäufliche Hanf-Produkte

Abseits von ernsten Erkrankungen und chronischen Schmerzen gibt es aktuell in Deutschland eine Tendenz, freiverkäufliche Produkte mit Hanf für allerlei Beschwerden auszuprobieren. Beispiele sind Hanföl und CBD-Cremes gegen Muskelverspannungen und Rückenschmerzen oder CBD-Tropfen bei Schmerzen und Einschlafproblemen. Ihr Status ist jedoch fast immer unklar, ihr Effekt auf die Befindlichkeitsstörungen durch Studien nicht belegt. Im Zweifelsfall sollte man daher immer den Rat seines behandelnden Arztes einholen, auch wegen möglicher Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten.

Erstattung durch die Krankenkassen

Die Voraussetzung für die Verschreibung von Cannabismedikamenten (CAM) ist, dass

  • allgemein anerkannte Standardmedikamente nicht zur Verfügung stehen,
  • allein nicht ausreichend wirken
  • oder ihre Nebenwirkungen für die Patienten angesichts ihres Gesundheitszustands zu belastend wären.

Die Erstattung bleibt also eine Einzelfallentscheidung. Die Genehmigung bei der Krankenkasse für die Therapie muss allerdings nur einmal eingeholt werden, auch wenn man später die Dosis ändert oder zu einer anderen Darreichungsform wechselt.

Verordnung von medizinischem Cannabis

Wie erhalte ich medizinisches Cannabis?

In Deutschland haben Ärzte seit dem 01. März 2017 unter bestimmten Voraussetzungen mehrere Möglichkeiten, Produkte auf Cannabis-Basis zu verschreiben. Als Patient haben Sie jedoch nur dann Zugang zu diesen Produkten, wenn ein Arzt sie Ihnen verschrieben hat. Die Verordnung erfolgt bisher über ein Betäubungsmittelrezept (BtM-Rezept). Es ist nicht möglich, Cannabis zur medizinischen Anwendung ohne Rezept zu kaufen.

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Medizinisches Cannabis als Fertigarzneimittel

In Deutschland sind momentan Fertigarzneimittel als Spray zur Anwendung in der Mundhöhle und zur Einnahme als Kapseln zugelassen.
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Medizinisches Cannabis als Rezepturarzneimittel

Ärzte können auch Rezepturarzneimittel von Produkten auf Basis von Cannabis-Extrakten verschreiben. Ein Rezepturarzneimittel wird von einer Apotheke für einen bestimmten Patienten nach den Anweisungen des Arztes hergestellt.

Frequently Asked Questions

Was ist medizinisches Cannabis?
Zur medizinischen Anwendung der Cannabispflanze  werden deren Blüten getrocknet und können direkt verwendet werden oder es werden Extrakte aus der Planze gewonnen. Da diese Cannabinoide nicht wasser-, sondern fettlöslich sind, werden sie auf öliger Basis hergestellt. Die Extrakte enthalten am häufigsten die Wirkstoffe THC (Tetrahydrocannabinol) und CBD (Cannabidiol), die die bekanntesten und am besten erforschten Cannabinoide sind. Die Wirkungsdauer von oralem Cannabis liegt typischerweise zwischen sechs und acht Stunden.
Kann ich medizinisches Cannabis nehmen und fahren?
Bei Patienten, die Cannabis auf Rezept erhalten, herrscht oft Unsicherheit, ob Sie Autofahren dürfen oder nicht. Werden medizinische Cannabisprodukte mit THC eingenommen, lautet die Empfehlung, nicht zu fahren. Die Rechtslage hierzu ist leider nicht ganz eindeutig. Wird Cannabis aus medizinischen Gründen und nach Vorschrift angewendet, besteht kein generelles Fahrverbot. Die Fahrtüchtigkeit muss jedoch vom Arzt bestätigt sein (Patientenausweis) und das Fahrzeug stehen gelassen werden, wenn z.B. psychische oder physische Ausfallserscheinungen auftreten.
Bitte sprechen Sie mit Ihrem Arzt, wenn Sie Fragen oder Bedenken haben.
Welche Ärzte haben die Erlaubnis, medizinisches Cannabis zu verschreiben?
Abgesehen von Zahn- und Tierärzten dürfen Hausärzte und Ärzte jeder Fachrichtung seit 1. März 2017 Cannabisarzneimittel verordnen. Es ist dazu keine besondere Qualifikation notwendig. Sprechen Sie mit Ihrem Arzt oder Ihrer Ärztin, wenn Sie der Meinung sind, dass diese Therapie bei schwerwiegenden Erkrankungen für Sie geeignet ist.
Ist medizinisches Cannabis erstattungsfähig?
Seit März 2017 haben Patienten, bei denen eine schwerwiegende Erkrankung vorliegt, unter bestimmten Voraussetzungen Anspruch auf eine Therapie mit medizinischem Cannabis. Dabei muss von Arzt und Patient bei der jeweiligen Krankenkasse ein begründeter Antrag auf Erstattung gestellt werden. Wird der Antrag von der Kasse bewilligt, können getrocknete Cannabisblüten oder Cannabisextrakt sowie cannabishaltige Fertigarzneimittel verordnet werden und der Patient erhält eine Kostenerstattung.
Voraussetzung für die Therapie mit medizinischem Cannabis ist, dass keine therapeutische Alternative zur Verfügung steht oder diese nach der Meinung des Arztes nicht sinnvoll ist. Es sollte die Aussicht auf einen verbesserten Krankheitsverlauf und effizientere Linderung der Symptome bestehen.
Bei welcher Indikation kommt medizinisches Cannabis am häufigsten zum Einsatz?
Medizinisches Cannabis kommt am häufigsten bei chronischen Schmerzen, insbesondere bei Tumor- und Nervenschmerzen zum Einsatz. Auch Spastiken bei Multipler Sklerose sowie Übelkeit, Erbrechen und Appetitlosigkeit während einer Chemotherapie können damit effektiv gelindert werden. Die Wirkung von cannabinoidhaltigen Arzneimitteln bei Rückenleiden, rheumatoider Arthritis, Fibromyalgie, AIDS und psychischen Erkrankungen ist bislang noch nicht hinreichend erwiesen.
Ärzte können Cannabinoide in Einzelfällen und als Ergänzung zu weiteren Maßnahmen, wie physio- und psychotherapeutischen Verfahren, verordnen. Der Antrag auf Kostenübernahme bei den Krankenkassen muss gut begründet werden.

Links und Services

Quellen

3) 28. Wade DT, Collin C, Stott C, Duncombe P. Meta-Analyse der Wirksamkeit und Sicherheit von Sativex (Nabiximols) zur Spastik bei Menschen mit Multipler Sklerose. Mult Scler. 2010; 16 (6): 707–14 und 2. Whiting PF, Wolff RF, Deshpande S, Di Nisio M, Duffy S, Hernandez AV, et al. Cannabinoide für medizinische Zwecke: eine systematische Überprüfung und Metaanalyse. JAMA. 2015; 313 (24): 2456–73.
Schlussfolgerung in National Library of Medicine: „Die Responder-Metaanalyse von 4 RCTs ergab, dass ungefähr 50 % der Patienten, die medizinische Cannabinoide einnahmen, einen positiven Gesamteindruck der Veränderung berichteten, verglichen mit 35 % der Patienten, die Placebo einnahmen.“